In meiner Kindheit gehörte es noch dazu, zur Kommunion das zwanzigbändige Bertelsmann Universallexikon geschenkt zu bekommen. Es enthielt das Wissen der Welt – oder das, was wir dafür hielten. Hinzu kam der eine oder andere Ergänzungsband. Ein Wissensschatz für die Ewigkeit.
Nun, die Ewigkeit hat nicht lange gehalten. Heute kann man die ganze Sammlung bei eBay für 10 Euro erstehen. Und auch die Duden-Bände und die Pons-Wörterbücher finden sich kaum noch auf dem Schreibtisch. Stattdessen ist das Wissen der Welt ins Internet gewandert. Eine kurze Suche in Google, ein paar Klicks auf den Seiten von Wikipedia … und schon hat man die gewünschten Informationen auf dem Bildschirm. Wahlweise auch auf dem Smartphone, und damit jederzeit verfügbar. Zusätzlicher Vorteil: Die Online-Inhalte sind stets aktuell.
Und die digitale Transformation hat nicht nur das Geschäft mit Lexika und Wörterbüchern verändert: Fast jede Information ist online in wenigen Minuten auffindbar. Kochbücher? Nur noch nett, um sich schöne Fotos anzuschauen. Rezepte findet man schneller und wesentlich zahlreicher im Netz. Reiseführer? Okay, vielleicht einen kleinen für die Reise … man ist ja nicht immer online. Aber der Großteil der Urlaubsvorbereitung erfolgt immer häufiger im Web.
Wenn das Suchen das Verstehen ersetzt
1995 hat Bill Gates auf der Comdex in Las Vegas eine Vision für Microsoft verkündet: „Information At Your Fingertips“. Es ging um einen Blick in die Zukunft: Wie wird die Welt in zehn Jahren aussehen? Es war (natürlich) eine wundervolle Vision, die zeigte, wie sich der Arbeitsplatz und das Leben verändern würden, wenn wir jederzeit Zugriff auf benötigte Informationen haben würden.
Heute, gut 20 Jahre später, ist „Information At Your Fingertips“ Realität. Und das weitaus umfassender als in der damaligen Vision von Microsoft. Doch was damals nicht Thema war: Mit der Verfügbarkeit all diesen Wissens haben wir das Suchen über das Verstehen gestellt. Mancher Student argumentiert heute, dass Faktenlernen doch so was von out ist – schließlich könne man alles jederzeit bequem im Internet finden. Und umgekehrt sind viele Nutzer unkritisch, was Informationsquellen im Internet betrifft: Wenn es „in der Wikipedia“ (oder gar „in Google“) steht, dann wird es schon stimmen.
Abhanden kommt dabei die Fähigkeit, die Informationen kritisch zu hinterfragen und zu verifizieren. Oder haben wir sie nie gehabt? Das Bertelsmann Universallexikon, der Duden, die Tagesschau und die Tageszeitungen, ja, sogar die meisten Bücher, das waren kuratierte Informationsquellen, auf die wir uns verlassen haben. Die Inhalte kritisch zu hinterfragen, das war höchstens Thema, wenn es um die Bild-Zeitung ging.
Dieses Verhältnis zu Informationsquellen haben die meisten für das Internet übernommen, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Dabei wird ausgeblendet, dass faktisch jeder Informationen online veröffentlichen kann – unabhängig vom Wahrheitsgehalt, ohne Kontrollinstanzen und mit minimalem Aufwand. Und man kann die Informationen (anders als gedruckte Informationen) jederzeit abändern oder löschen – die wenigsten Rezipienten werden je etwas davon merken.
Was fehlt, ist die Fähigkeit und die Bereitschaft, dem Wissensspeicher Internet kritischer zu begegnen und Inhalte zu hinterfragen. Das ist aber nicht nur eine Frage der Ausbildung, der Qualifikation und des Willens, sondern auch der unzureichenden Technik. Die Anbieter, Aggregatoren und Suchmaschinenanbieter sorgen mit ihren Algorithmen sogar dafür, dass die Nutzer immer weniger in der Lage sind, sich ein umfassendes und neutrales Bild zu machen.
Immer mehr Filterblasen
Das Problem sind die Systeme, die uns nicht etwa eine umfassende Auswahl zu einem Thema präsentieren, sondern versuchen, die Informationen und Angebote herauszufiltern, die uns am ehesten interessieren könnten. Frei nach dem Motto „Mehr vom Selben“ bekommen wir die Häppchen vorgesetzt, die zu unserem früheren Nutzungsverhalten passen.
Das ist einerseits verständlich: Eine Suchmaschine, die dem Nutzer ständig viele Treffer präsentiert, die für ihn nur bedingt interessant sind, wird in der Nutzergunst sinken, eine, die immer scheinbar passende (und damit das vorhandene Meinungsbild bestätigende) Treffer liefert, scheint die bessere Wahl. Letztere aber blendet gerade die Resultate aus, die vielleicht für die kritische Auseinandersetzung mit einem Thema notwendig wären.
Ob Google, Facebook oder Amazon: Große Websites präsentieren den Nutzern daher „personalisierte“ Surferlebnisse. Und sorgen so dafür, dass die Nutzer in einer Filterblase gehalten werden. Aber nicht nur das eigene Nutzungsverhalten auf der jeweiligen Website oder dem entsprechenden Shop beeinflusst die Filterblase, sondern das gesamte Surfverhalten. So sorgt das umfassende Nutzer-Tracking dafür, dass die Filterblasen immer perfekter werden und immer schwerer erkannt und durchbrochen werden können.
Eine fatale Situation, die gezielte Manipulation, aber auch versehentliche Fehlinformation und entsprechende Meinungsbildung unterstützt und so letztlich sogar zu einer Radikalisierung beitragen kann.
Viel hilft nicht viel
Der dritte Aspekt, der neben der fehlenden Kuratierung und der algorithmischen Personalisierung eine kritische Analyse erschwert, ist die schiere Informationsmenge verbunden mit einem Aufmerksamkeits-Paradoxon: Viele Online-Inhalte lassen sich im Grunde auf die gleichen Quellen zurückführen. Da werden Pressemitteilungen unkritisch abgeschrieben, um Seiten zu füllen. Ein Thema in einem Medium dient als Vorlage für einen ähnlichen Artikel in einem anderen Medium. Und spätestens, wenn drei, fünf oder zehn Websites über den nächsten großen Abnahm-Trend schreiben, muss ja etwas dran sein, oder?
Die Nutzer vergessen dabei gerne das grundlegende Geschäftsmodell für frei abrufbare Informationen im Internet: Im Web geht es um Reichweite, um Besucher und um Klicks. Nur so lassen sich werbliche Inhalte schalten und damit Einnahmen erzielen. Mit langweiligen Informationen, die jede Facette eines Themas abwägen, erzielt man aber keine Aufmerksamkeit. Wer kommerziell erfolgreich sein will, muss daher pointiert, knapp und aufmerksamkeitsstark texten. Nur solche Inhalte erreichen Leser und werden geteilt. Virale Botschaften sind das Ziel, mit Millionen von Lesern, die die Inhalte teilen, kommentieren und liken.
Aber damit gibt es auch mehr Links auf diese Inhalte, die gerade bewusst aufmerksamkeitsheischend gestaltet wurden. Was zu noch größerer Reichweite für diese Inhalte führt – und zu dem irrigen Glauben, dass hohe Reichweite Glaubwürdigkeit, Korrektheit und soziale Bestätigung bedeutet. Ein Teufelskreis.